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14. November 2017, 19:00 Uhr
Leben im Bauwagen
Ein Biotop für Anderswohner
Komfort zählt wenig auf dem Wagenplatz „Hin und Weg“ in Bogenhausen – für die Bewohner geht es um Wichtigeres
Von Jessica Schober
Was macht ein Zuhause aus? Vier Wände aus Beton? Fließendes Wasser aus dem Hahn? Zentralheizung? Für 15 Erwachsene und zwei Kinder im Münchner Norden fällt die Antwort anders aus: Gemeinschaft, Nachhaltigkeit, Diversität und der pochende Wunsch nach einem anderen Leben sind für sie der Grund, in einer Wagenburg zu wohnen, einer Siedlung aus selbstgezimmerten Bauwägen und ausgebauten Autos. Man muss schon wissen, wo man in Bogenhausen von der Denninger Straße abbiegen muss, um in einem Wäldchen hinter den Mehrfamilienhäusern jenen 1000 Quadratmeter großen Platz zu finden, auf dem eine Heimat für Familien, Handwerker und Freigeister entstanden ist.
Die Wagenburg steht auf einem Grundstück, das die Bewohner von der Stadt gemietet haben. Es ist neben dem „Stattpark Olga“, der im vergangenen Jahr von der Tumblingerstraße an die Boschetsrieder Straße gezogen ist, der zweite größere Platz dieser Art in München. Sein Name klingt nach Freiheit und Fernweh – „Hin und Weg“ heißt er. Ein Biotop für Anderswohnende. Und eine Heimat für jene, die ein anderes Leben wagen wollen.
19 Quadratmeter, mehr braucht Birgit Wagner nicht. Die 34-jährige Schneiderin lebt seit zweieinhalb Jahren auf dem Wagenplatz „Hin und Weg“. Als sie damals aus Nürnberg herzog, wollte sie den Münchner Mietmarkt „nicht mitmachen“, wie sie sagt. So entschloss sie sich, in einem alten Wagen zu leben. Ein Kassenwagen aus Köln, vermutlich gehörte er einst einem Zirkus. Birgit Wagner hat das Eichenholz liebevoll restauriert, auf der Rückseite der Dachlatten fand sie ein Datum: Baujahr 1962. Eine Innenwand ist nun mit Lehm verputzt, davor steht ein kleiner Kachelofen, die einzige Wärmequelle im Winter. Zur Zeit hackt sie viel Holz und besorgt Briketts. „Denn wenn es draußen richtig kalt ist, macht die erste halbe Stunde nach dem Aufstehen wenig Spaß.“ Die einfach verglasten Fenster will sie deshalb noch zweifach verglasen.
Die Maßschneiderin, die Klüfte für Wandergesellen fertigt, hat sich eingerichtet im Provisorium, sie hat es sich gemütlich gemacht in der Komfortlosigkeit. Regelmäßig holt sie mit einem Handwägelchen gemeinsam mit anderen Bewohnern Wasser aus einem von der Stadt gemieteten Standrohr. „Ich kann eben nicht mit dem Finger schnippen, und plötzlich läuft das Wasser aus der Leitung“, sagt Wagner. Im Winter sammelt sie Schnee, den sie in einer Emailleschüssel auf dem Kachelofen schmilzt, um dann darin Geschirr zu spülen. Sie weiß, dass sie ziemlich genau 20 Liter in der Woche zum Kochen und Trinken braucht. „Ich mag es, den Aufwand der Grundversorgung meines Lebens direkt mitzubekommen“, sagt Birgit Wagner, „Und ich weiß es sehr zu schätzen, die Jahreszeiten so intensiv wahrzunehmen.“
Auf dem Platz lebt auch eine vierköpfigen Familie in einem buntbesprühten Wagen, der aus Restholz und recycelten Materialien gebaut wurde. Als die Kinder in der Schule von ihrem Wohnort erzählten, verlegte die Klassenlehrerin den Wandertag kurzerhand auf den Wagenplatz. Die Neugier ist groß, auch beim jährlich im Sommer stattfindenden „Tag der offenen Wagentür“. Da konnten Nachbarn und Interessierte einen Blick in die Wagen werfen und das Leben zwischen Bäumen und Sträuchern besser kennenlernen.
Dabei wollen die Bewohner keine Hippie-Klischees bedienen. Auch die Schneiderin Birgit Wagner sagt: „Wir sind keine Aussteiger, wir nutzen die Strukturen der Stadt.“ Auf dem Wagenplatz gibt es nicht nur Strom, sondern beispielsweise auch einen Internetanschluss. Wagner lebt im Wagen, weil sich hier alle gegenseitig aushelfen, manchmal rufe der Nachbar an und frage: „Kannst du schon mal meinen Wagen vorheizen?“
Immer montags ist Plenum, dann sitzen alle im selbstgezimmerten Wohnzimmer beisammen und diskutieren über ihre Form des Zusammenlebens, die Birgit Wagner als „sehr unreglementiert“ beschreibt. „Manchmal nervt das, aber es ist wichtig.“ Gemeinsam kochen, Holz hacken, Wasser holen, Möbel bauen oder Musik machen gehören dazu – aber man könne sich auch zurückziehen, wenn man Ruhe brauche. Niemand hier hat einen Fernseher in seinem Wagen stehen. Auf „Hin und Weg“ geht es auch um Konsumverzicht. Dafür wird das Wohnzimmer, das sonst offen ist, im Winter mit Fenstern verkleidet zum zentralen Platz für Gespräche und Austausch.
„Dieses Zusammenleben ist eine gute Lebensschule. Man übt verhandeln“, erzählt die Schneiderin. Ihre Mitbewohner auf dem Platz sind zwischen fünf und 50 Jahre alt. Darunter sind ein Filmemacher, ein Steinmetz, eine Krankenschwester, eine Friseurin. Öffentlich über ihr besonderes Zuhause reden wollen viele lieber nicht. Zum Schutz der Privatsphäre an einem Ort ohne Gartentor und Jägerzaun.
Damit es mehr solcher Orte in München geben kann, hilft Birgit Wagner anderen Interessenten, sich zu vernetzen. „Wir bekommen aktuell mehr Anfragen, als wir aufnehmen können. Wir sagen den Leuten dann, dass die einen eigenen Platz gründen sollen“, erzählt Wagner.
Kontakte zur Nachbarschaft pflegen die Platzbewohner auch, in Form eines Tauschschrankes, oder wie Birgit ihn nennt: „unser Hundert-Prozent-Rabattschrank“. Dort kann jeder Mensch hineinlegen, was nicht mehr gebraucht wird und sich herausnehmen, was er nützlich findet. „Das ist eine Form der nonverbalen Kommunikation, die wir mit der Nachbarschaft haben, und da sind oft tolle Sachen drin“, erzählt Wagner. Klamotten und Silberbesteck hat sie bekommen, eine alte Wäschetruhe hineingestellt. „Viele Anwohner finden es super zu sehen, dass ein anderes Leben möglich ist“, erzählt sie. „Wir teilen nicht nur unser Werkzeug, sondern auch unser Leben.“
Die Zukunft von „Hin und Weg“ auf dem Platz in Bogenhausen ist zumindest vorübergehend gesichert. Vor einem Monat wurde der Mietvertrag bis September 2018 verlängert. Wie es danach weitergeht, wollten die Bewohner mit der Stadt besprechen. Warum Birgit Wagner sich noch mehr solcher Orte wünscht? „Ich glaube, dass Diversität etwas Bereicherndes ist. Ich finde, Irritation ist etwas Gutes.“
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