Jedem sein Laster
In München steht ein Wagenvolk
Das Wagenvolk Olga schätzt LKW und Trailer nicht nur als Wohnung, sondern auch als Nutzfahrzeug im Wortsinn.
Freiheit hat ihren Preis und ist doch mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Um quer durch Europa unterwegs sein zu können, müssen viele Kollegen Fahrzeit- und Termindruck in Kauf nehmen sowie die Tatsache, dass ihnen ihr Fahrzeug die meiste Zeit auch als Wohnung dient.
Letzteres gilt auch mehr für die Bewohner(innen) der Wagenburg Olga im Münchner Südosten, die Laster lieben – nicht nur als Fortbewegungsmittel, sondern auch als fahrbare Behausung. Deswegen haben einige den C- oder CE-Schein.
Einer von ihnen ist Max, gelernter Mechaniker. Er erklärt augenzwinkernd, dass PKW auf den Besucherparkplätzen „geduldet“, würden. Er hat seinen alten 123er-Benz dort über den Winter eingemottet. Seine permanente Beifahrerin, eine angekokelte Schaufensterpuppe, darf in dieser Zeit auf den Beifahrersitz seines Magirus umziehen.
Das „Wagenvolk“ verwirklicht sich mit den Fahrzeugen den Traum vom eigenen Haus (auf Rädern) und versucht, neben dem Arbeitsalltag noch einige kulturelle Projekte zu stemmen.
Wie bei Immobilien auch, stehen immer wieder Um- oder Ausbauten an, vor allem im Sommer. Max übernachtet dann mal im Container oder in der Doka seines Magirus „M“-Allradlers, Pied schläft in einem ausgebauten Düsseldorfer Transporter, „Wanne“ genannt. Oder, sofern das Wetter mitspielt, unter freiem Himmel. Peter, der in einem großen Zirkusfahrersitz seines Magirus umziehen. Das „Wagenvolk“ verwirklicht sich mit den Fahrzeugen den anhänger (einst Bügler) wohnt, schläft dagegen am liebsten einfach in seinem „eigenen Bett“.
STARK: 18-TONNEN-BERNA MIT TOP-MOTORISIERUNG
Oft als LKW im eigentlichen Sinn unterwegs ist Markus‘ 74er Berna 330D (noch aus Oltener Fertigung). Für seine 18 Tonnen steht er mit der 330-PS-Spitzenmotorisierung auch für heutige Verhältnisse noch gut im Futter. Als der Schweizer noch „offen“ war, lief er dank langer Hinterachse locker 125 km/h – jetzt ist er meist im Stadtverkehr unterwegs und muss dort oft schwer schuften. Zum Beispiel wenn Pied Bretter für seinen neuen Innenausbau braucht oder jemand schwere Ersatzteile holen muss. Manchmal dient er auch als „Kulissenschieber“, mit dem sperrige Theater- oder Filmrequisiten umgezogen werden.
Auch Max mag den Berna: „Wenn du den im Winter kalt startest, hast du erst mal richtig zu tun – bis die Öle alle auf Temperatur sind, ist das Lenken und Schalten echt Arbeit“. Aber er schätzt den Schweizer: „Super Qualität, guter Zustand und doppelt so viel Hubraum wie mein Magirus – da geht schon was.“ Künftig soll auch der Berna einen Wohnkoffer mit verstellbaren Stützbeinen erhalten, um ihn künftig im Wechsel als Wohn- und Lastenmobil einsetzen zu können.
Gegenüber baut Tinka gerade ihren Mercedes 508 Diesel wieder zusammen, der gerade komplett durchgeschweißt und teils neu lackiert wurde. Gerade frickelt sie das Schloss unter die Frontklappe, nachdem ihr das Alte „einfach abgefault“ war. Schon seit zwei Wochen schraubt sie an dem Düsseldorfer herum und scheute dabei auch vor den dreckigsten Arbeiten nicht zurück, wie ihre ölverschmierten Hände belegen. „Wohnmobile mit H-Zulassung sind beim Wagenvolk am begehrtesten“, erklärt sie, „aber funktionieren müssen sie halt auch.“ Dass die alten Benz-Diesel leider nicht unverwüstlich sind, belegt Andres‘ 406D, vor dem ein Austauschaggregat auf den Einbau wartet. Das besorgte er sich aus Wien.
ERSATZTEILE ZU FINDEN IST EINE HERAUSFORDERUNG
Günstig passende Teile für die rollenden Behausungen zu beschaffen, gehört zu den Herausforderungen des Wagenvolkes, das in der Regel fit ist im Umgang mit Werkzeug, Schweißbrenner und Lackierpistole. Andres unterhält neben seinem Ex-Möbler von Otto Bernhard eine kleine Fahrradwerkstatt. „Da lernt man das Schrauben am besten, hat schnell Erfolge und überwindet vor allem die Angst, überhaupt mal etwas auseinanderzumontieren“, erklärt Maggie-Lenker-Max, gelernter Mechaniker und somit Profi.
Die Marke Magirus mag auch Andreas M.: Sein 120 D 10A Eckhauber lief in den Sechzigerjahren oft als Gerätekraftträger. Der Original-Koffer wich allerdings einer vergrößerten Wohnbox mit Alkoven. Wenn Andreas nicht mit dem Luftgekühlten fährt, nutzt er für innerstädtische Besorgungen das Fahrrad. Das tut auch Frank, der dazu noch eine Vespa vor seinem mattschwarzen, „räudigen 814er“ stehen hat. Dessen Ladebordwand nutzt er als große Terrasse. Dahinter montierte er etwas eingerückt eine zweite Wand, so dass sich im Heckbereich ein kleiner, sauber ausgebauter „Vorraum“ ergibt.
Eine großzügige Terrasse hat auch der Wohnwagen von Martin und Sarah, die gerade Nachwuchs bekamen. Zur Entbindung gingen die beiden ins Geburtshaus, zwei Tage später waren sie wieder „daheim“ im Wagen, der einst Himolla-Polstermöbel transportierte und mit seinem großen Fenster und dem kleinen Kamin zu den Preziosen auf dem Platz zählt.
WO EINE NACKTE BARBIE KOPFÜBER ABHÄNGT
Dazu gehört auch der klassische Pullmann-Möbelwagen von 1970 auf Mercedes-LP-Basis mit vollintegriertem Aufbau – der „Klassiker“ der Wagenvölker. Dahinter steht Max‘ Wohncontainer samt „Empfangsdame“ – kopfüber hängt eine Barbiepuppe ab. Neben dem Ackermann-Möbler hat Max sein „Schloss“ geparkt: Einen riesigen alten Deichselanhänger, der einst beim Zirkus oder einem Schaustellerbetrieb lief und bis auf den Rohbau „gestrippt“ wurde. Eigentlich ein schönes Projekt, das allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Deshalb disponierte Max um: Die Rohbauvilla auf vier Rädern wird verkauft zugunsten eines größeren Wohnkoffers, der die komplette Plattform des Magirus ausfüllt und mehr Platz bietet als sein kompakter Container. Nachteil: „Der Koffer steht leider genau am anderen Ende der Republik“, erklärt Max.
Auch Pied braucht künftig mehr Platz und tauscht die „Wanne“ gegen einen Möbelkoffer, den er gerade entkernt. „Der Boden war von unten komplett verfault“, ruft er, während er unzählige Befestigungsbolzen von den Querträgern flext.
So ist der Wagenpark organisiert
Das Wohnen im Wagen ist nicht nur Lebensgefühl, sondern weckt auch die Sensibilität für die Umwelt und das Miteinander. Außerdem spürt man den Verbrauch der Ressourcen unmittelbar. Das Wasser müssen alle an einem gemeinsam genutzten Hahn holen, der Strom wird vorwiegend durch Solar- oder Windenergie gewonnen und ist somit auch entsprechend wertvoll. Prinzipiell strebt man eine Energieversorgung unabhängig von einem konventionellen Strom- und Gasanschluss an. Die gemeinsame Nutzung von Gebrauchsgegenständen und das Bewältigen der täglichen Aufgaben und Arbeiten sollen das Miteinander und die Solidarität untereinander fördern.
Gleich am Eingang steht der Gemeinschaftsraum – eine Holzkonstruktion mit Waschcontainer, der man einen umgebauten Auflieger gegenübergestellt hat. Dort wird gekocht, gegessen, geredet, gewaschen und gelagert. Im Waschcontainer stehen Sanitärraum und Waschmaschine, für die Toiletten müssen zwei Dixi-Häuschen herhalten. „Wir hätten auch das stark verschmutzte Toilettenabwasser in den Kanal abführen dürfen, der hier noch nicht saniert wurde und beide Brauchwasserarten führt. Als uns die Stadt das mitteilte, hatten wir unsere sanitären Anlagen aber schon installiert“, erklärt Max das komplexe Genehmigungsverfahren, das für das Wagenvolk gilt wie für jeden Immobilienbesitzer. Auch die Mülltonnen stehen streng nach Abfallsorte getrennt in Reih und Glied.
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